Kritik: Room

An dieser Stelle gibt es ausnahmsweise keinen Trailer, da dieser massive Spoiler enthält. Ich empfehle ausdrücklich, ihn nicht vor dem Film anzusehen.

2,5 von 3 Punkten: Erschütterndes, fast perfektes Drama mit Thriller-Elementen

Genre: Drama, Thriller
Erscheinungsjahr:
2016
Kinostart Deutschland: 17. März 2016
Cast: Brie Larson, Jacob Tremblay
Regie: Lenny Abrahamson
Drehbuch: Emma Donoghue
Budget: 6 Mio. USD

Room - PosterFür den fünfjährigen Jack (Jacob Tremblay) und seine Mutter Joy (Brie Larson) ist ein 11 Quadratmeter grosses Zimmer namens „Room“ die ganze Welt: Seit 7 Jahren wird Joy dort vom Psychopathen „Old Nick“ gefangen gehalten; er ist auch der Vater ihres Sohnes. Die einzigen Schnittstellen zur Außenwelt sind ein ausbruchssicheres Dachfenster und ein kleiner Fernseher.  Aber Jack ist fest davon überzeugt, dass nichts außerhalb des Raumes tatsächlich existiert – einschließlich dessen, was er im Fernsehen sieht. 

Kurz nach seinem Geburtstag beginnt Joy, ihn behutsam darauf vorzubereiten, dass es noch eine Welt „da draußen“ gibt, mit echten Menschen, echten Tieren und der Freiheit, überall hinzugehen. Das ist nicht nur Selbstzweck, sondern auch notwendig für ihren Plan, endlich aus „Room“ auszubrechen…

Der auf dem gleichnamigen Roman der Autorin Emma Donoghue basierende Film wurde inspiriert von der Geschichte des Österreichers Josef Fritzl, der seine Tochter und drei der mit ihr gezeugten Kinder jahrzehntelang in einem Kellerverlies gefangen hielt.

Emotionale Wirkung: Ja!

Uff! Der Film ist eine emotionale Achterbahnfahrt, und das, obwohl er nur in wenigen Sequenzen auf Spannung setzt. Die haben es jedoch in sich; an einer Stelle wäre ich fast aus meinem Kinosessel aufgesprungen.

Wesentlicher für den Film ist aber die Atmosphäre. Situationsbedingt ist diese erst sehr bedrückend, wird mit der Aussicht auf einen erfolgreichen Ausbruch aber zunehmend hoffnungsvoll und später sogar verhalten optimistisch, trotz aller Widrigkeiten und Herausforderungen, mit denen Joy und Jack konfrontiert werden. Ganz sicher kein Feelgood-Movie, aber man muss auch keine Sorge haben, danach deprimiert aus dem Kino zu schleichen.

Kreativität: Jein (1/2 Punkt).

Die Handlung ist ein Amalgam aus realen Ereignissen und damit in der Kreativitätswertung natürlich ein kleines Handicap, weshalb der Film hier auch keinen ganzen Punkt abräumen kann.

Aber obwohl die Geschichte von echten Ereignissen inspiriert ist, so überzeugt der Film doch mit einer unkonventionellen Aufbereitung. Typischerweise hätte man bei diesem Stoff einen Thriller erwartet; „Room“ ist aber in erster Linie ein komplexes Drama, das nur um wenige, dafür umso effektivere Thriller-Elemente bereichert wurde.

Unkonventionell ist auch die Wahl der Perspektive: Obwohl Brie Larson für die Rolle den Oscar den mehr als verdient hat, so ist die zentrale Figur eigentlich Jack – und wir sehen die Geschehnisse hauptsächlich aus seiner Sicht.

So gelingt es dem Film, nicht „nur“ eine Beziehungsstudie zu sein, sondern auch philosophische Tiefe zu erreichen: Als Jack wütend die Beteuerungen seiner Mutter anzweifelt, es gäbe noch eine wirkliche Welt außerhalb, erscheint „Room“ als eine moderne Version von Platos Höhlengleichnis und wirft damit die Frage auf, was wir eigentlich als Realität wahrnehmen und warum. Und nicht zuletzt wird durch die scheinbare Normalität ihrer Beziehung diese – wenn vielleicht auch nicht von der Autorin bewusst beabsichtigt – zu einer Metapher auf das „richtige Leben“ innerhalb eines oppressiven, vorerst unentrinnbaren Systems.

Handwerk & Plausibilität: Ja!

Einige Kritiker haben angemerkt, dass der Film visuell nicht herausragend sei, manche sogar, dass er an einen Fernsehfilm oder eine -serie erinnere. In der Tat ist „Room“ optisch nicht spektakulärer als eine beliebige Folge eines Crime-Procedurals wie beispielsweise „Criminal Minds“, viele Einstellungen erinnern sogar daran. Aber so eine Kritik führt meiner Meinung nach in die Irre. Dieses Argument könnte man auch gegen „12 Angry Men“ von Sidney Lumet ins Feld führen, und auch dort wäre es fehl am Platz.

In „Room“ geht es vor allem um das Innenleben der Charaktere und ihre Beziehung zueinander. In diesem zweiteiligen Kammerspiel spielen die Production Values und die Kamera deshalb eine sehr untergeordnete Rolle, entscheidend sind Drehbuch und Darstellung. Und hier hebt er sich ganz deutlich ab. „Room“ arbeitet in zwei Stunden seine zentralen Figuren – Joy und Jack – plastischer und lebensechter heraus als die meisten Serien in mehreren Staffeln; von Fernsehfilmen ganz zu schweigen. Das liegt sicher auch daran, dass Donoghue auf Stereotypen und Klischees weitgehend verzichtet hat und der Film die Täterperspektive vollkommen außen vor lässt: Joy und Jack sind keine typischen „Opfer“ und Old Nick erscheint insgesamt eher als Teil der Ausstattung von „Room“ als eine eigenständige Persönlichkeit. Das ist eine erfrischende Abwechslung zu sehr vielen anderen Werken, die oft nicht umhin kommen, den jeweiligen Täter zu verklären.

Brie Larson hat vollkommen zu Recht den Oscar für die beste weibliche Hauptrolle bekommen, jedoch würde der Film nicht ohne die hervorragende darstellerische Leistung von Jacob Tremblay funktionieren. Larson hat ihn freilich in ihrer Dankesrede bedacht, aber es mutet fast seltsam an, dass er nicht eine eigene Nominierung für die beste Nebenrolle erhalten hat. Ein Novum wäre das nicht: Es gab schon Nominierungen von Kinderdarstellern, auch wenn bisher dann letztlich keiner einen Oscar gewann.

Fazit

„Room“ ist ein herausragendes, emotional mitreißendes und vielschichtiges Drama.  Spannungsmomente werden sparsam eingesetzt, aber die wenigen stellen so manchen reinrassigen Thriller in den Schatten. Die absolute Spitzenwertung von 3 Punkten verpasst er nur ganz knapp, und das nicht aus qualitativen, sondern nur aus prinzipiellen, bewertungslogischen Gründen.

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